Der Geist des Tom Joad




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Der Geist des Tom Joad

Beitragvon woodyguthrie » Sa 13. Dez 2008, 20:33

Die Süddeutsche Zeitung hat heute ein Bericht veröffentlicht:

Der Geist des Tom Joad

Ein Masterplan für die Krise? Mythos und Wirklichkeit von Franklin D. Roosevelts New Deal

von Nikolaus Piper

In den neunziger Jahren sang Bruce Springsteen eine traurige Ballade über illegale Einwanderer in Amerika. Sie hausen in Papphütten an Eisenbahngeleisen, immer auf der Flucht vor der Polizei. Und über ihnen schwebt, so heißt es in dem Lied, "der Geist von Tom Joad". Da ist er wieder, der lange Schatten der Vergangenheit. Tom Joad, das ist der Held aus John Steinbecks Roman "Früchte des Zorns" von 1939, ein armer Farmer, der die Dürre und die Sandstürme von Oklahoma flieht und als Wanderarbeiter nach Kalifornien zieht, nur um dort Ausbeutung, Ausgrenzung und Demütigung zu erleben. "Früchte des Zorns" war der Schlüsselroman der Weltwirtschaftskrise, aber auch der Politik, die sich dieser Krise entgegenstellte, des "New Deal" von Präsident Franklin Delano Roosevelt.

Heute ist wieder viel von diesem New Deal die Rede. Die Vereinigten Staaten erleben die schwerste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression. Und wie einst FDR soll nun ein neuer Präsident das Land aus der Krise führen. Von "Obama"s New Deal" träumt das linksliberale Magazin Nation, während der konservative Kommentator Michael Barone warnt, Obamas New Deal werde nicht besser sein als der alte. "Franklin Delano Obama?" fragt Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman und rät Barack Obama, aus den Erfolgen Roosevelts ebenso zu lernen wie aus dessen Fehlern.

Zumindest rhetorisch ähneln sich Obama und Roosevelt auf verblüffende Weise. "Yes we can", rufen Obamas Anhänger. "We can do it", schrieben die New Dealer auf ihre Plakate. Obama spricht vom "Wagnis der Hoffnung", Roosevelt sagte bei seiner Amtseinführung am 4. Dezember 1933 den berühmten Satz: "Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst." Die Frage, wie viel Obama und Roosevelt gemein haben, ist alles andere als akademisch, denn die Erinnerung an den New Deal spaltet Amerika bis heute. Für Progressive ist der Begriff eine Chiffre der Hoffnung, für die Konservativen eine Schreckensformel; für die einen hat Roosevelt die Weltwirtschaftskrise besiegt, für die anderen hat er sie verlängert.

Anders als es beide Seiten wahrhaben wollen, war die Wirklichkeit des New Deal komplex und widersprüchlich. Roosevelt hatte nie ein konsistentes Wirtschaftsprogramm, sondern reagierte meist aus dem Bauch heraus. Einige seiner Maßnahmen nutzten gegen die Krise, einige schadeten ihr.

Der Begriff "New Deal" stammt ursprünglich von dem Publizisten Stuart Chase, Roosevelt nahm ihn auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten im Sommer 1932 auf: "Ich verspreche dem amerikanischen Volk einen neuen Vertrag (a new deal). Das ist mehr als ein Wahlkampf, das ist ein Ruf zu den Waffen." Die martialische Sprachwahl schien angemessen; schließlich näherte sich die Weltwirtschaftskrise ihrem Höhepunkt. Knapp ein Viertel der arbeitsfähigen Amerikaner stand auf der Straße, das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte um 13,4 Prozent, der Mittlere Westen wurde überdies von einer Dürrekatastrophe heimgesucht (der Hintergrund zu "Früchte des Zorns"). Roosevelts Kriegsruf hatte Erfolg: Am 8. November errang er einen Erdrutschsieg: Die Demokraten verbuchten 57 Prozent der Stimmen (Obama errang nur 52,8 Prozent), bis auf sechs Ausnahmen fielen alle Bundesstaaten an Roosevelt.

FDRs Stil war konfrontativ und aggressiv. Anders als Obama 2008 lehnte Roosevelt nach seinem Wahlsieg jede Zusammenarbeit mit Vorgänger Herbert Hoover ab, weshalb sich in der Übergangszeit bis zum Amtsantritt am 4. März 1933 die Abwärtsspirale noch beschleunigte und das Bankensystem in den USA praktisch zusammenbrach. In den meisten Bundesstaaten hatte im März 1933 keine einzige Bank mehr geöffnet, der Kreditmarkt war praktisch zusammengebrochen.

Schon Präsident Herbert Hoover hatte, ähnlich wie Finanzminister Henry Paulson heute, die Banken durch Kapitalspritzen von insgesamt zwei Milliarden Dollar zu stützen gesucht, allerdings ohne Erfolg. Roosevelt ging einen anderen, radikalen Weg. Am Tag nach seiner Amtseinführung verkündete er einen "Bankfeiertag": Alle Kreditinstitute wurden für vier Tage komplett geschlossen; anschließend durften sie wieder öffnen, allerdings erst nach einer Prüfung durch das Finanzministerium. Diejenigen, die tatsächlich öffneten, hatten das staatliche Siegel der Unbedenklichkeit und fanden Vertrauen und frisches Geld, die anderen verschwanden vom Markt. Der Trick funktionierte, die Bankenkrise war auf einen Schlag beendet. Für die Sparer bedeutete das Gesetz jedoch eine Enteignung: Sie bekamen nur noch 85 Cent auf jeden Dollar ihrer Einlage.

Mit dem Bankgesetz begannen die berühmten ersten 100 Tage Roosevelts. In schwindelerregendem Tempo beschloss die Regierung ein Gesetz nach dem anderen. Roosevelt hob die Bindung des Dollars an das Gold auf und löste so eine dramatische Abwertung des Dollars aus, was amerikanische Exporte erleichterte.

Er kürzte die Gehälter von Regierungsangestellten und die Renten von Kriegsveteranen, um den Staatshaushalt auszugleichen. Er schränkte die landwirtschaftliche Produktion ein, um den Verfall der Agrarpreise zu stoppen. Hunderttausende Amerikaner wurden bei öffentlichen Arbeiten beschäftigt. Er führte eine staatliche Versicherung von Bankeinlagen ein; sie besteht im Prinzip bis heute. Und dann einer der psychologisch wichtigsten Schritte der Deregulierung: Am 13. März fiel die Prohibition; Bier, Wein und Whiskey waren wieder legal.

Anne O"Hare McCormick, eine Reporterin der New York Times, schrieb am 7. Mai 1933, die Stimmung in Washington erinnere sie "auf merkwürdige Weise an Rom in den ersten Wochen nach dem Marsch der Schwarzhemden oder an Moskau bei Beginn des Fünf-Jahres-Planes. Amerika verlangt heute buchstäblich nach Befehlen".

Bis heute werfen Kritiker Roosevelt totalitäre Tendenzen vor und verweisen auf Parallelen zu Faschismus und Kommunismus. Immerhin forderte er in seiner Antrittsrede 1933 Vollmachten, "die so groß sind wie die, die ich bekommen würde, wenn uns ein äußerer Feind überfiele". Die Nazis sahen anfangs sogar ihren Geist in Washington am Werke. Adolf Hitler sagte dem amerikanischen Botschafter William Dodd, Roosevelts Politik entspreche "der deutschen Staatsphilosophie, die ihren Ausdruck in dem Slogan findet: Das Gemeinwohl steht über dem Interesse des Einzelnen."

Umgekehrt hatte Roosevelt aber nie Sympathien für Hitler; er begriff von Anfang an die Gefahr, die von dem deutschen Diktator ausging. Anders sah es mit dem italienischen Faschismus aus. Rexford Tugwell, einer der wichtigsten Berater des Präsidenten, bewunderte das Wirtschaftsprogramm von Benito Mussolini als "die sauberste, und am effizientesten arbeitende Gesellschaftsmaschine", die er je gesehen habe. 1927 nahm Tugwell bereits an einer Reise amerikanischer Intellektueller zu Stalin in die Sowjetunion teil; den meisten erschien der Stalinismus hinterher in rosigem Licht.

Anders als die Kommunistenjäger nach dem Krieg unterstellten, waren Roosevelts Berater aber keine sowjetischen Spione. Mit einer bemerkenswerten Ausnahme freilich: Harry Dexter White, dem Staatssekretär im Finanzministerium, der 1944 in Bretton Woods den Internationalen Währungsfonds mitgründete. Er versorgte die Sowjets vermutlich während des ganzen Krieges mit Geheiminformationen. Franklin Roosevelt selbst testete in seiner Machtfülle die Grenzen der Verfassung, aber er stellte die bürgerlichen Freiheiten nicht in Frage. In der Regel jedenfalls: Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor ließ er mehr als 100 000 japanisch-stämmige Amerikaner internieren - ein Rechtsbruch, für den sich Präsident Ronald Reagan 1988 in aller Form entschuldigte.

Hinter dem New Deal stand nie eine einheitliche Theorie. Roosevelt kannte im März 1933 vermutlich noch nicht einmal den Namen von John Maynard Keynes, dem großen Ökonomen der Weltwirtschaftskrise. Dessen Grundgedanken, dass es in der Krise auf die kaufkräftige Nachfrage ankommt, hat Rossevelt ausweislich seiner Politik nie akzeptiert. Keynes selbst verfolgte die Politik Roosevelts mit Sympathie und Sorge. Am 31. Dezember 1933 schrieb er in der New York Times einen offenen Brief an den Präsidenten: Roosevelt habe zwar die Chance, "das erste Kapitel einer neuen Wirtschaftsordnung" zu schreiben, er gefährde aber deren Erfolg durch das, was die New Dealer "Reform" nannten.

Die Kritik von Keynes bezog sich vor allem auf das Reformprojekt der National Recovery Administration. Die NRA war eine Behörde, die die sogenannte zerstörerische Konkurrenz ausschalten sollte. In der Praxis bedeutete das, dass mächtige Industriegruppen mit den Gewerkschaften Mindestpreise und Mindestlöhne aushandelten, die die NRA dann für allgemein verbindlich erklärte. Vor allem für viele kleine Unternehmen wirkten diese Kartelle verheerend.

Berühmt wurde das Beispiel von ALA Schechter, einer koscheren Geflügelschlachterei in Brooklyn. Die Kommissare der NRA verfolgten die Schechters, jüdische Einwanderer aus Ungarn, weil sie die Preise gesenkt hatten, um im Geschäft zu bleiben. Die Frima brachte ihren Fall bis vor den Obersten Gerichtshof der USA. Der verwarf die Praktiken der NRA als verfassungswidrig und machte die Schechters so zu Anti-Helden des New Deal. Heute gibt es keinen Zweifel daran, dass die NRA der amerikanischen Wirtschaft schwer geschadet hat.

Ähnlich problematisch war Roosevelts Plan zur Entwicklung des Tennessee-Tales. Im Mai 1933 unterzeichnete er das Gesetz über die Gründung der Tennessee Valley Authority, die den Fluss regulieren, für Elektrizität sorgen und die ruinierte Landwirtschaft entwickeln sollte. Eigentlich ein fortschrittliches Programm, Roosevelt benutzte es jedoch, um, mit zum Teil brutalen Methoden, private Elektrizitätsunternehmen zurückzudrängen und zu zerstören.

Die Zwiespältigkeit des New Deal zeigte sich auch 1937, als die USA unerwartet in eine neue Rezession stürzten. Der Präsident sah dabei eine Verschwörung Henry Fords und anderer Großindustrieller am Werke. Tatsächlich war Roosevelt vor allem selbst verantwortlich für die Krise. Ökonom Krugman glaubt, dass der Präsident zu früh versuchte, den Staatshaushalt wieder auszugleichen.

Andere sehen die Ursache in der Gängelung der Wirtschaft und in einer Streikwelle, die die durch ein besonderes Gesetz (den "Wagner Act") gestärkten Gewerkschaften angezettelt hatten. Anders als andere Industriestaaten, einschließlich Nazideutschlands, litten die USA bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unter zweistelligen Arbeitslosenquoten.

Andererseits schuf Roosevelt eine Unzahl von Einrichtungen, die sich Amerikaner nicht mehr wegdenken können: die staatliche Rentenversicherung ("Social Security"), die Börsenaufsicht SEC und die staatliche Einlagensicherung der Banken (FDIC). Im Civilian Conservation Corps bauten Arbeitslose Autobahnen, Nationalparks und Mustersiedlungen, die noch heute genutzt werden.

Und dann gibt es bizarre Verbindungen zwischen dem New Deal und der heutigen Krise. 1938 gründete Roosevelt die Federal National Mortgage Association (FNMA). Die Staatsbank hatte die Aufgabe, anderen Banken ihre Hypotheken abzukaufen und so die Zinsen zu senken, um den Hauskauf für normale Amerikaner erschwinglich zu machen. 1968 wurde die FNMA unter dem Namen Fannie Mae privatisiert, behielt aber viele staatliche Privilegien. Mit der impliziten Garantie der Regierung im Rücken investierte Fannie Mae in das Geschäft mit zweitklassigen Hypotheken, heizte damit den Immobilienboom an und wurde dann zu einem frühen Opfer der jetzigen Krise.

Heute ist Fannie Mae technisch zahlungsunfähig, steht unter staatlicher Zwangsverwaltung und ist Teil des Bergs von Problemen, die Obama als 44. Präsident der Vereinigten Staaten lösen muss.


Quelle.Süddeutsche Zeitung

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